Im Wartesaal der Träume
Ein Tag bei der Bahnhofsmission Bonn
von Oliver Klawikowski
Untereinander haben wir Schüler uns in den letzten Tagen vor dem Compassion-Praktikum natürlich oft befragt, wer sein Praktikum wo macht. Die Wenigsten konnten etwas damit anfangen, wenn ich gesagt habe, dass ich bei der Bahnhofsmission bin. Auch ich muss gestehen, dass ich zuvor nur wenig darüber wusste. Auf der Liste der Praktikumsstellen hatte sich der Zusatz „Obdachlosenbetreuung“ gefunden. In meiner ersten Woche erfuhr ich, was das konkret heißt: Obdachlose können zur Bahnhofsmission (in gemeinsamer Trägerschaft von Caritas und Diakonie) kommen, um dort kostenlos Kaffee und etwas zu Essen zu bekommen. Sie erhalten Hilfe, falls sie Fragen oder Probleme haben (zum Beispiel wenn sie eine Diagnose des Arztes wegen der lateinischen Begriffe nicht verstehen). Auch werden Reisehilfen für Behinderte geleistet und wenn jemand Auskünfte über die verschiedensten Dinge braucht oder ihm bei einer längeren Umsteigezeit einfach nur kalt ist, kann er ebenfalls zur Bahnhofsmission kommen.
8.45 Uhr, Bonner Hauptbahnhof. Es ist schweinekalt – schlechte Voraussetzungen für Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. Vermutlich wird die Bahnhofsmission deshalb heute gut besucht sein. Ich schlängele mich durch die wartenden Fahrgäste auf dem überfüllten Gleis eins. Die Bahnhofsmission befindet sich nicht, wie ich anfangs vermutete, in der Bahnhofshalle, sondern ganz am Ende des Bahnsteiges eins und ist nur von dort aus zugänglich: ein kleiner Anbau der Haupthalle, dem man auf den ersten Blick nicht ansieht, dass er eine soziale Einrichtung beherbergt. Das Hinweisschild am Aufgang von Gleis eins ist für Ortsunkundige leicht zu übersehen.
Ich klingele an der Tür. Sie ist von außen verschlossen und muss von innen elektronisch geöffnet werden, damit die Mitarbeiter – schon zu ihrem eigenen Schutz – kontrollieren können, wer reinkommt. In der Mission wartet Frau Mechthild Kirst auf mich, die jeden Montag und Donnerstag da ist. Sie ist eine nette ältere Dame und wie die anderen vier Mitarbeiter/innen ehrenamtlich tätig.
''' Kaffee hat sie schon aufgesetzt '''
so dass die ersten Leute kommen können. Auch sie glaubt, dass aufgrund der Kälte mehr Leute kommen werden als gewöhnlich. Also hat sie direkt einmal zehn Tassen gekocht. Wir reden kurz und ich beginne meine Zeitung zu lesen. Sofort fällt mir im Innenteil die Überschrift „Bonner Tafel steht wegen neuer EU-Richtlinie vor dem Aus“ auf. Frau Kirst hat es auch schon mit Unmut gelesen. Die Bonner Bahnhofsmission erhält ihre Backwaren (Brot, Brötchen, Teilchen), die die Obdachlosen bekommen, nämlich auch von der Bonner Tafel. Für heute haben wir zum Glück noch genug Lebensmittel da, was wird aber in Zukunft geschehen?
Nach 20 Minuten klingelt es zum ersten Mal. Da von den Obdachlosen die meisten Besucher „Stammkunden“ sind, kenne ich diesen Mann bereits. Es ist Herr März (alle Besuchernamen geändert). Alle Obdachlosen werden mit „Sie“ und ihrem Nachnamen angesprochen, eine Respektsbekundung, der sie auf der Straße nur selten begegnen.
Herr März bittet um einen Kaffee und etwas zu essen – das erste Mal, dass ich an diesem Tag zum Einsatz komme. Ich gieße ihm eine Tasse Kaffee ein, Löffel für Milch und Zucker dazu und schmiere ihm zwei Brote mit Salami. Viele Menschen, die auf der Straße leben müssen, sind naturgemäß nicht so gepflegt, wie wir das gewohnt sind. Sich mit Herrn März in einem Raum aufzuhalten, ist aber selbst für hartgesottene Nasen eine große Herausforderung. Frau Kirst ermahnt ihn in ernstem Ton, dass er das nächste Mal bitte beim VfG duschen gehen soll, bevor er in die Bahnhofsmission kommt.
„VfG“ ist die Abkürzung des Vereines für Gefährdetenhilfe e.V., der eine wichtige Anlaufstelle für viele Obdachlose ist. Hier können sie essen, umsonst duschen, werden medizinisch versorgt und haben zudem ein eigenes Postfach. Auch bei Angelegenheiten mit dem Sozialamt wird ihnen geholfen und, wenn das Arbeitsamt Jobs für mehrere Tage oder eine Woche hat, wendet es sich umgehend an den VfG, so dass Obdachlose mit etwas Glück und, falls sie überhaupt arbeitsfähig sind, auch die Möglichkeit haben, ihr Taschengeld etwas aufzubessern und für einen oder zwei Tage arbeiten zu gehen.
Herr März isst nach dieser Aufforderung seine Brote noch schneller als sonst und ist innerhalb von fünf Minuten wieder weg. Dass Frau Kirst es ihm so direkt ins Gesicht gesagt hat, dass er streng riecht, wirkt zwar auf den ersten Blick hart, aber es zeigt, dass die Obdachlosen den Leuten von der Bahnhofsmission nicht egal sind. Nicht egal sein heißt einerseits, ihnen höflich und mit Respekt gegenüber zu treten, sie z.B. mit „Sie“ anzusprechen, aber ihnen andererseits auch offen die Meinung zu sagen und sie damit auch ernst zu nehmen.
''' Es ist Frau Kirst eben nicht egal, wie Herr März durch Bonn läuft.'''
Weil ihr etwas an ihm liegt, kümmert sie sich um ihn, wozu auch solche Aufforderungen mitunter nötig sind.
Ich räume das Geschirr auf und stelle es in die Spülmaschine. Außerdem trage ich Herrn März in das Berichtsbuch der Bahnhofsmission (dort wird jeden Tag hineingeschrieben, wer kam, was passiert ist und was wir gemacht haben) und in die Tagesstatistik ein. Die Bahnhofsmission muss nämlich für den Träger genau Buch führen, wie viele Leute kommen, was für Leute das waren (Frauen, Männer, Obdachlose, etc.) und wie viele Portionen Essen und Kaffee ausgegeben wurden oder ob jemand an andere Stellen weitervermittelt wurde.
Es ist 9.45 Uhr. Frau Kirst erinnert mich daran, dass wir heute einen Auftrag (Auftrag meint Reisehilfe) haben: Ein gehbehinderter Mann kommt kurz vor 11 Uhr mit dem „Berlin-ICE“ aus Hamm an und muss weiter mit dem Zug Richtung Bad Neuenahr reisen, der 50 Minuten später abfährt. Ich schaue nochmals im Auftragzettel nach, in dem Wagennummer und Sitzplatz vermerkt sind und die Information steht, dass er keinen Rollstuhl benötigt. Also muss ich wahrscheinlich einfach nur sein Gepäck tragen. Aufträge sind sehr selten geworden: In den zweieinhalb Wochen Praktikum waren es ganze sechs.
Kaum fünf Minuten später klingelt es bereits wieder an der Tür: Vier Männer und eine Frau, alle wie die meisten Besucher zwischen 40 und 50 Jahre alt. Der Aufenthaltsraum der Mission ist nicht gerade groß, mehr als fünf Leute passen kaum an den Tisch. „Haben sie einen neuen Zivi?“ wird Frau Kirst gefragt. Ich erkläre ihnen, dass ich von der Schule aus ein Praktikum machen muss und deshalb noch für etwas mehr als eine Woche da sein werde. Frau Kirst hilft mir beim Schmieren der Brote. Da die meisten Obdachlosen sehr offen sind, ist es mir bisher nie schwer gefallen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ist man mit ihnen alleine, kann es auch schon mal sehr persönlich werden. In Gruppen unterhält man sich über Dinge, die gerade im „Bonner Loch“ (die Obdachlosen bezeichnen den Hauptbahnhof übrigens auch so) aktuell sind. Plötzlich fragt mich ein schon merklich angetrunkener Mann namens Hardtbach in bestem Kölsch: „Sag mal: Wenn ein Nachtwächter am Tage umgebracht wird – bekommt der Rente oder nicht?“ – „Keine Ahnung!“ – Herr Hardtbach löst die Frage auf: Natürlich gar keine, er ist ja schon tot. Für mich ist das wieder eine dieser Situationen, bei denen ich nicht genau weiß, ob ich lachen oder weinen soll. Vom Herrn Hardtbach folgt der Satz:
„Ich bin noch ganz helle im Kopf – wenn ich unter der Lampe steh´“
Ein anderer Mann sagt, dass man im Bonner Loch keine Fernseher brauche, weil da immer etwas los sei. Möglich, aber tauschen wollte ich wohl doch eher nicht.
Frau Kirst kommt dazu, fragt die Männer, wie es ihnen gehe, und nimmt an der Gesprächsrunde teil. Ich höre gespannt zu, plaudere etwas mit und schenke zwischendurch Kaffee nach und schmiere ein paar weitere Brote. Was soll ich sagen? Die Obdachlosen unterhalten sich nicht anders als wir Schüler uns auf dem Schulhof. Sie wirken sehr „normal“ und man erlebt sie ganz anders als auf der Straße, wo sie in der Regel mit Bierdose anzutreffen sind oder teilnahmslos in irgendeiner Ecke sitzen.
Ich mache das kleine Radio an, über das wir die Bahnsteigsdurchsagen der Deutschen Bahn direkt in der Mission hören können. Der von unserem „Auftrag“ betroffene ICE hat 20 Minuten Verspätung – es bleibt also noch etwas Zeit.
Wenig später platziere ich mich am entsprechenden Gleis und da steigt auch schon ein Mann Ende 40 mit Gehstock aus. Ich frage, ob er von der Bahnhofsmission abgeholt werden wollte. Er ist es! Er kann nur mühsam laufen und wir peilen den Aufzug zu Gleis 1 an. Da noch eine halbe Stunde Zeit bleibt, will ich ihn mit zur Bahnhofsmission nehmen. „Aufzug defekt“! Zeitgleich zerlegen gerade Arbeiter die Rolltreppe des selben Gleises. Was tun?
Der Aufzug zu Gleis 4 funktioniert offensichtlich. Obwohl es noch 25 Minuten bis zur Abfahrt sind, steht der Zug zum Glück schon im Bahnhof. Ich begleite den Mann hinein, warte bis er sich gesetzt hat, und lege seine Taschen oben in das Gepäckfach. Er ist sehr froh, dass es so etwas wie die Bahnhofsmission gibt, bedankt sich und ich verabschiede mich. Nun sitzt er wenigstens schon im warmen Zug und muss nicht frieren.
Zurück in der Mission: Aufräumen und Statistik. Plötzlich klingelt das Telefon: Eine Frau fragt, ob es bei uns auch Schlafmöglichkeiten gebe. Dies ist leider nicht der Fall und ich muss sie auf das Prälat-Schleich-Haus am alten Friedhof verweisen.
Während wir etwas „Leerlauf“ haben erzählt mir Frau Kirst von Einzelschicksalen und auf welche Weise viele unserer „Besucher“ obdachlos geworden sind.
''' Die Biographien ähneln sich '''
Häufig kommen die Menschen aus guten, geordneten Verhältnissen. Irgendwann wurden sie – oft unverschuldet – arbeitslos. Es folgen Beziehungsprobleme, Alkohol zur „Problembewältigung“ bzw. Alkoholsucht in der Folge, psychische Probleme, Abkapselung, Distanzierung von Frau und Familie, Scheidung, Kündigung der Wohnung wegen Zahlungsverzug usw. Ein Teufelskreis: Ohne festen Wohnsitz keine Arbeit – ohne Arbeit, keine Wohnung.
Kurz nach Mittag kommt ein gewisser Herr Fischer in die Bahnhofsmission. Er ist ein besonderer Besucher, weil er trotz Obdachlosigkeit recht gepflegt aussieht und keinen Alkohol trinkt. „Wenn ich einen Liter Alkohol im Jahr trinke, ist das viel“, sagt er über sich selbst. Seit ein paar Tagen jobbt er, vermittelt über den VfG. Auch er erzählt mir von diesem „Arbeit-Wohnungs-Teufelskreis“ und sonstige Geschichten aus dem „Bonner Loch“. Zum Beispiel von der strikten Trennung zwischen Trinkern und Drogenabhängigen, die nichts miteinander zu tun haben wollen. Er beschwert sich darüber, dass die Trinker gerne mal von Polizei oder Ordnungsamt des Hauptbahnhofes verwiesen werden, die „Junkies“ hingegen nicht. Das deckt sich allerdings nicht mit meinen Erfahrungen. Einen Tag lang durfte ich eine Polizeistreife am Bahnhof begleiten und ich hatte den Eindruck, dass die sehr darauf bedacht waren, Drogengeschäfte zu verhindern, leider aber allzu häufig mit geringem Erfolg. Die Beamten bestätigten mir, dass es entgegen allgemeiner Befürchtungen nur äußerst selten zu Übergriffen von Drogenabhängigen oder Trinkern auf Passanten kommt. Wenn, dann gebe es eher Zoff untereinander.
Dass die Welt auch unterhalb der Obdachlosen nicht in Ordnung ist, bestätigt Herr Fischer. Wenn im Hauptbahnhof bekannt ist, dass jemand wieder Geld bekommen hat, dann kommen viele Leute, die diesen Menschen normalerweise nicht einmal eines Blickes würdigen, und möchten etwas ab haben. Und so gibt es mittlerweile in diesem Milieu nur noch drei Leute, denen Herr Fischer vertraut. „Nur in Situationen, in denen es einem schlecht geht, merkt man, wer die richtigen Freunde sind – und das sind nicht viele“, meint er. Er scheint wirklich sehr vernünftig zu sein und ich frage mich, ob es ihm nicht doch irgendwann gelingen wird, wieder auf die Beine zu kommen und evt. Wohnung und Arbeit zu finden. Wenn es jemandem von den Besuchern der Mission gelingen kann, dann ihm am ehesten.
Es kommen im weiteren Tagesverlauf noch andere Obdachlose; ein Mann ist beklaut worden und braucht eine Fahrkarte – ein Service, den die Bahnhofsmission leider wegen massiven Missbrauchs in der Vergangenheit nicht mehr bieten kann. Dann, um 14 Uhr bereits, wird die Bahnhofsmission geschlossen – wegen Unterbesetzung! Für den Praktikanten zwar ganz nett, für die Bedürftigen allerdings weniger erfreulich.
Ich setze also meinen Rucksack auf den Rücken und nehme den Zug zurück Richtung Duisdorf. Mal schauen, was mich morgen in der Bahnhofsmission zwischen hochmodernen ICE-Zügen und Aufenthaltsgebiet der sozial Schwächsten und Unangesehensten der Stadt erwartet.