Wie schön, dass Sie gekommen sind ...
Frau H. sitzt unter der Uhr in einem hohen, roten Kunstledersessel, wie sie im Aufenthaltsraum ihrer Abteilung stehen. Sie sitzt da, als sei sie eingenickt. Ich ziehe einen Stuhl herbei und setze mich zu ihr. "Guten Tag, Frau H." Nach einem leisen Ruck sitzt sie aufrecht und sagt: "Wer sind Sie?" Ich sage ihr, ich sei der Pfarrer. "Fein, dass Sie gekommen sind. Das finde ich jetzt wirklich schön", sagt sie. Und sie lächelt vor sich hin. Auch das kommt öfters vor. Die bloße Anwesenheit wird geschätzt. Von einem Gespräch kann noch keine Rede sein, vielleicht kommt es auch nicht dazu. Es ist wenigstens jemand gekommen. Das hat einen Wert wie: "Ich werde nicht vergessen; es wird an mich gedacht." So geht es auch ihr: "Wie schön, dass Sie gekommen sind."
"Wussten Sie, dass mein Schwager gestorben ist?" Ich weiß es nicht und es ist auch gar nicht gesagt, dass es stimmt. Vom Personal weiß niemand davon, wie meine Nachfrage ergibt. Ob es nun stimmt oder nicht - sie sagt es. Wir unterhalten uns denn auch eine Weile über jenen Schwager. Man lernt mit der Zeit, dazubleiben, wo der andere mit seinen Gedanken ist. Der Schwager hat ihr wahrscheinlich viel bedeutet. Vielleicht hat er die Rolle ihres Mannes übernommen. Sie sagt jedenfalls: "Mein Mann ist nie da. Der ist immer unterwegs." Was meint sie? Es ist mir im Augenblick nicht klar.
Wir erleben oft, wie ein Mann oder eine Frau beginnt, den Partner der Untreue zu bezichtigen, weil er immer wieder weggeht, während die anderen, die Mitbewohner, wenigstens dableiben.
Inzwischen hält sie mir die Hand. Sie lässt sie nicht mehr los. Es gefällt ihr offensichtlich. Nach einer Weile wird sie sich dessen bewusst und sie schämt sich ein wenig. Sie sagt: "Sie denken bestimmt, ich will ihre Hand verkaufen; ich halte sie schon so lange fest." Wir scherzen darüber. Ich frage sie: "Haben Sie sich schon einen Preis überlegt?" Sie muss lachen. Ich lasse sie spüren, dass sie meine Hand ruhig weiter halten darf. Sie bemüht sich auch nicht, ihre Hand zurückzuziehen.
Was ist ein Gespräch? Bisweilen kann ich sie überhaupt nicht verstehen. Sie murmelt mit ausländischem Akzent. Zwischendurch verstehe ich sie wieder. Sie wiederholt sich mehrmals: "Wie schön, dass Sie gekommen sind.
Jetzt ist mein ganzer Tag gut«, fügt sie sogar hinzu.
Nach etwa acht Minuten an ihrer Seite fragt sie mich, ob ich einen Beruf habe. Ich erzähle ihr nochmals, wer ich bin. "Wohnen Sie immer noch an der XY-Allee?" Ja. Was sollte ich sonst sagen? Wahrscheinlich hat sie in dem Quartier gewohnt oder sie wohnt in ihrer Vorstellung immer noch dort.
"Dann geht es Ihnen bestimmt gut", meint sie. Sie fängt von meinem Pfarrer an. "Wie alt ist er jetzt?" "Er dürfte 50 sein." Wir unterhalten uns eine Weile über den für mich fiktiven Pfarrer. Für sie dürfte alles ganz konkret sein.
"Wussten Sie, dass mein Schwager gestorben ist?" Sie wiederholt ihre Frage. Ich sage ihr, sie habe es mir erzählt. Das sind die schwierigen Momente. Es kann peinlich werden, wenn man eine geistig abgebaute Betagte in ihrer Vergesslichkeit "auf frischer Tat ertappt".
Sie fängt an zu weinen. Ist es ihres Schwagers wegen? Oder weil wir hier so zusammen sitzen und sprechen? Ich weiß es nicht genau. Sie geht selbst darauf ein: "Die Tränen kommen einfach; man kann sich ja auch nicht immer beherrschen." Mir macht es nichts aus. Würden nur mehr Menschen weinen, denke ich mir. Wozu immer tapfer sein? Warum sollte man nicht über den Tod des Schwagers weinen dürfen? Oder warum darf man nicht bewegt sein - einfach so? Auch das kann der Grund ihres Weinens sein.
Eigentlich ist es ein sehr schönes Gespräch. Irgendwann will sie meinen Vornamen wissen. "Marinus heiße ich." Ein schöner Name, findet sie. Sie wiederholt ihn mehrmals und sagt dann wieder: "Wie schön, dass Sie gekommen sind."
Nach einer halben Stunde verabschiede ich mich. Vielleicht hat sie meinen Besuch schon nach einer Stunde oder noch schneller vergessen. Ist das so wichtig? Wir hatten guten Kontakt. Es gab Begegnung. Wir waren eine Weile zusammen. Ist das nicht bereits mehr als genug?
Gespräche mit geistig abgebauten Menschen sind nicht gerade leicht. Ich muss sehr oft eine Schwelle überwinden, wie übrigens bei anderen Gesprächen auch. Dass noch weniger gesagt wird als in diesem Gespräch, kommt auch vor. Dann sitzt man einfach neben, bei oder vor dem anderen. Manchmal streicht mir jemand übers Haar. Oder ich erhalte ein Kompliment über meinen Pullover oder meine Krawatte, falls ich eine trage. Oft genug heißt es: "Sie sind noch jung." Man spürt, wie dies dem anderen gefallt, doch selbst neigt man zum Gedanken: "Bin ich nicht zu jung für diese alten Leute?" Aber das sagen sie nicht. Ist es wohl sinnvoll, einfach dazusitzen? Wer weiß das schon? Manchmal wird kein Wort gesprochen und wenn ich dann sage: "Auf Wiedersehen", höre ich, "Sie kommen doch wieder, oder?" Am Anfang musste ich mir abgewöhnen, immer eine Reaktion zu erwarten, die für mich das Gespräch zu einem Gespräch machte. Man ist zum rationalen Verhalten erzogen worden und lebt mit der Vorstellung, es müsse immer etwas Sinnvolles gesagt werden. Doch was wäre sinnvoll? Ich begreife allmählich, dass es um mehr als nur das vermeintlich Sinnvolle geht. Es geht darum, da zu sein, den anderen anzusprechen. "Kennen Sie mich", lautet dann die erste Frage. Die Freude ist sichtbar, wenn einer sich erkannt weiß.
Ich habe gelernt und vor allem entdeckt, dass Gespräche sehr viel mit Nähe zu tun haben. Die Frau legte während des ganzen Gesprächs ihre Hand auf meine. Sie schämte sich nicht. Dass man sich nicht berühren darf, entspricht einem auferlegten Muster, das ihr entschwunden ist. Ein Gewinn oder ein Verlust? Mir scheint es ein Gewinn. Ich musste mich allerdings daran gewöhnen.
Der geistig abgebaute Mensch nimmt auch keine Rücksicht mehr auf Standesunterschiede. Diese Fähigkeit hat er verloren. Sie ist einer anderen Fähigkeit gewichen: dem Gefühl für Wärme, Herzlichkeit und Menschlichkeit. Er spürt ganz genau, ob man ihn ernst nimmt oder ob man ihn als >Objekt< ansieht.
Wir glauben oft, jemand sei auch in seinen Gefühlen gestört, wenn die geistigen Fähigkeiten abnehmen. Oft genug trifft gerade das Gegenteil zu. Das Gefühlsleben ist völlig intakt. Es fühlt noch. Deshalb verlangt dieser Betagte eine taktvolle, eine gefühlvolle Annäherung. Möglicherweise ist unser Gefühlsleben mehr gestört als seins.
Nicht nur Kontakt, Erwiderung erwarten wir vom Gespräch; wir hoffen auch noch, dass von unserem Gespräch etwas bleibt. Es kann uns entmutigen und enttäuschen, wenn wir feststellen, dass der Betagte unseren Besuch bereits nach wenigen Minuten wieder vergessen hat und sagt: "Ich habe niemand gesehen." Man ist geneigt, weniger Besuche abzustatten. "Sie oder er begreift es sowieso nicht, dass ich da bin", pflegen wir dann zu sagen. Doch auch damit machen wir unsere Erwartung zur Norm.
Mir kommt >Die Insel< von Aldous Huxley in den Sinn. Auf der Insel ruft ein Tier: "Achtung, Achtung bitte. Hier und jetzt. Hier und jetzt." Das haben wir verlernt: aufmerksam leben im Hier und jetzt. Wir leben zu oft morgen oder gestern aber nicht heute. Wenn wir das hier und jetzt Erlebte mehr schätzen könnten, würden wir mehr Glück empfinden, das Glück des Augenblicks erleben. In Gesprächen mit geistig abgebauten Betagten bedarf es der Sensibilität für das Hier und Jetzt, um das momentane Geschehen schätzen zu können.
Gespräche mit diesen Betagten sind zwar meistens relativ kurz, aber dennoch nicht weniger anstrengend als jene mit geistig intakten Menschen. Sie fordern den gleichen persönlichen Einsatz. Wollte man sie nur schnell zwischendurch erledigen, so würde nichts geschehen; die Chance, dem anderen in seiner Eigenheit zu begegnen, würde verpasst.
Es fällt uns auf, wie wenig Besuch geistig abgebaute Betagte erhalten, auch von kirchlicher Seite. "Sie wissen ja doch nicht, wer kommt", wird dann viel zu leicht gesagt. Damit entzieht man nicht nur dem Betagten, sondern auch sich selbst ein Erlebnis des Glücks und der Freude.
Marinus van den Berg