Rollstuhlfahrer - ein gewagtes Experiment
Um zu erfahren, wie es Behinderten unter uns ergeht, hat sich ein Mann, der völlig gesund war, in einen Rollstuhl gesetzt und von einer "Betreuerin" durch die Straßen einer Großstadt schieben lassen. Was er dabei erlebte, schildert er selbst:
''Ich parke mit meinem Rollstuhl an der Bushaltestelle. Die Schulkinder beachten mich nicht, ihnen fällt nichts Ungewöhnliches auf. Doch die Passanten, die mit auf den Linienbus warten, reagieren. Zuerst verstummt das Gespräch, ihre Blicke wechseln herüber, verstohlen, nicht direkt. Dann lebt der Plausch wieder auf. Doch während die Dame mittleren Alters scheinbar unbefangen von Tante Irmi und Onkel Otto plaudert, belauern mich und meine Begleitung ihre Blicke. Der ältere Herr, ebenfalls scheinbar in die Tageszeitung vertieft, stellt sich ein paar Meter zurück in einen Hauseingang - weil er von dort besser beäugen kann. Nichts hasst der Behinderte mehr als dieses Spießrutenlaufen neugieriger Augenpaare. Viele werden ihr Leben lang damit nicht fertig, resignieren, ziehen sich in die Stube zurück.
Der Linienbus stoppt. Die Wartenden eilen auf die Türen zu. Um den Rollstuhlfahrer und seine Begleiterin kümmert sich keiner. Aus dem Businneren sieht man bedauernde Gesichter, etliche zucken nicht weniger bedauernd mit den Schultern: Der Bus ist voll. Als Behinderter sitzt man hilflos in seinem Selbstfahrer. Man muss warten, bis sich einer »erbarmt«, den Wagen anfasst und in den Bus hinein hebt. Meine Begleiterin berichtet, sie habe schon eineinhalb Stunden im Winter an einer Haltestelle gestanden. Doch dieses Mal ist dem nicht so. Ein Herr sagt dem Busfahrer Bescheid, ein anderer Herr packt mit an, einige Fahrgäste beschließen, schon an dieser Haltestelle auszusteigen, um Platz zu schaffen.
Ich bin im Bus. Man sieht die Köpfe der Fahrgäste weit über sich. Die reden über mich. Sie reden mit meiner Begleitung. Niemals mit mir. Wie heißt er denn? fragen sie oder: Wie alt ist er denn? Was hat er denn? Und als letztes: Kann er reden? Der Behinderte erfährt sich als Objekt.
Beim Ausladen will der Busfahrer von der Begleitung keinen Fahrpreis erheben: "Aber ich bitte Sie!" Und so wird es noch des öfteren passieren: Irgendwelche Menschen wollen keinen Eintritt, keinen Fahrpreis oder legen gar eine, zwei oder zehn Mark auf den Rollstuhl, damit sich der Behinderte einen schönen Abend mache.
Die Fahrgäste verlassen eilig den Bus. Links und rechts wischen sie an mir vorbei, und jetzt, da ich im Wege stehe, ignorieren sie mich vollends. Sie ziehen vorbei, lautlos, schattenhaft, als stünde da nichts.
Was die Bordsteine für einen Behinderten bedeuten, vermag sich kaum jemand vorzustellen, der sie nicht im Rollstuhl zu meistern versuchte. Bordsteine sind mit die größten Probleme. Kaum hat man etliche Meter zurückgelegt, schon kreuzt die nächste Straße. Man muss das Trottoir hinunter. Die Ampelschaltungen sind jedoch zu kurz. Bei Grün erreichen der Körperbehinderte und seine Begleitung kaum die rettende andere Straßenseite. Da staut sich bereits der Verkehr. Sehr deutlich empfindet man sich als Hindernis, als Belästigung, zumal, wenn der Bordstein hinauf bewältigt werden soll, man normalerweise den Fahrstuhl drehen muss.
Im Kaufhaus habe ich noch nicht eine der Türen angesteuert, als mich bereits zwei – gut meinende - Käufer duzen. Dadurch, dass ich in den Stuhl wechselte, wechselte auch mein Status, mein Ansehen. Das Duzen passiert einem überall. Die Verkäuferinnen behandeln mich so, wie ich sie behandele. Verhalte ich mich demütig ergeben, wie das Behinderten zumeist anerzogen ist, so beachten sie mich nicht. Sie sprechen mit meiner Begleiterin, obwohl ich die Herrensocken tragen möchte, setzen voraus, dass die Begleitung auch bezahlt. Während über mir der Verkauf abgeschlossen wird, Geld und Ware wechselt, legt man mir achtlos die Päckchen und Tüten in den Schoß. Wenn ich jedoch bestimmt auftrete, dann wendet sich die Verkäuferin auch mir zu, behandelt mich "normal".
Der Behinderte hat es jedoch schwer, so "normal" aufzutreten. Er sieht die Welt eine Etage tiefer als alle anderen. Die oberen Regale im Kaufhaus erreicht er nicht, die Sicht im Selbstfahrer reicht nicht über die Zäune. So verengt sich auch zwangsweise meist der Horizont. Vor Geschäften wird er gerne, weil man es eilig hat oder sich schämt, abgeparkt, wie man einen Hund vor dem Metzgerladen anleint. So wird man auf Warten, Geduld, Ergebenheit gedrillt, nicht mit böser Absicht, aber es geschieht eben. Da man sich selbst als Last und Bittsteller empfindet, mag man auch nicht aufbegehren. Es könnte aber anders sein, wie ein simpler Test beweist. Über die Maßen gut gefällt mir ein Etagencafe. Doch es führt kein Lift hoch. Treppen, immer wieder Treppen versperrten dem Behinderten den Zugang zu Ämtern, zur Post, zum Theater, Kino oder Cafe. Treppen sperren den Behinderten vom Leben ab. Ich wollte jedoch - trotz Stufen - ins Etagencafe.
Meine Begleiterin geht hinauf. Dort sitzen einige Pennäler fröhlich schwatzend an einem Tisch. Sie würde gerne auch eine Tasse Kaffee trinken, sagt sie, doch sie habe vorher noch ein Problem zu bewältigen. Eine Minute später balancieren mich vier aufgekratzte Oberschüler eine enge Wendeltreppe hoch. Sie helfen unkompliziert, erwarten keine Dankeshymnen. Im Cafe rolle ich quer durch den langen Raum, der Ober räumt vor mir die Stühle beiseite, damit ich zu meinem Platz komme. Er bedient wohltuend korrekt-normal!
Ernst Klee