Geistig Behinderte - die menschliche Seite
Interview mit Erdmute Baumgart, Leiterin des Theodor-Heckel-Bildungswerkes für Menschen mit geistiger Behinderung in München
Kann ein Nichtbehinderter die Situation eines geistig behinderten Menschen überhaupt erfassen?
B.: Ich denke schon. In Randsituationen lässt sich nachvollziehen, was in einem Menschen mit geistiger Behinderung vorgeht. Wenn ich irgendwo plötzlich vom Verständnis ausgeschlossen bin, weil ich die Sprache der anderen nicht verstehe oder in einem fremden Land die Schrift nicht lesen kann, oder sonst in Situationen, in denen wir uns überfordert fühlen. Wenn ich z. B. müde bin und jemand viel zu schnell mit mir spricht, viele Geräusche im Raum sind und ich mich auf eine Stimme konzentrieren soll, die womöglich noch einen schwierigen Sachverhalt erklärt, dann kann ich ungefähr nachvollziehen, wie ein geistig behinderter Mensch seine Umwelt empfindet; wenn ich an einen Punkt komme, wo ich das Gefühl habe: jetzt verliere ich den Überblick, die Sache gleitet mir aus der Hand. Ich bin unsicher, ich habe Angst.
Was lösen geistig behinderte Menschen bei Nichtbehinderten aus?
B.: Ängste, meistens Ängste vor dem Anderssein. Man könnte ja selber einmal so werden, oder jemand aus der Familie. Oder da ist die Befremdung vor dem Anderssein, zu dem ich keinen eigenen Zugang, kein eigenes Modell habe. Die Begegnung mit einer geistigen Behinderung kann auch Hilflosigkeit auslösen. Weil ich keine eigenen Erfahrungen habe, weiß ich auch nicht, wie ich mich einem so behinderten Menschen gegenüber verhalten soll. Ein weiterer Punkt ist manchmal auch Abgestoßensein bei großer körperlicher Entstelltheit.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, diese Ängste abzubauen?
B.: Ich meine, keine anderen als die der Gegenüberstellung, der Konfrontation. Dabei dürfte ich eigentlich nicht sagen Konfrontation, sondern vielmehr Integration. Das heißt, wir müssen den behinderten Menschen in der Gesellschaft zulassen und ihn in den Alltag hinein nehmen, damit wir ihn besser kennen lernen. Ich denke da an unsere Zivildienstleistenden: Sie kommen hierher und sind immer sehr überrascht, dass die geistig Behinderten doch ganz anders sind, als sie gedacht haben und sie durchaus einen Zugang zu Ihnen finden können. Es ist zwar wichtig, Vorurteile durch Vorträge und Öffentlichkeitsarbeit abzubauen, aber das berührt nur unseren Kopf und nicht den Bereich, wo die Angstbarrieren sitzen. Deswegen kommt es darauf an, Situationen zu schaffen, wo wir z. B. in der S-Bahn neben einem geistig behinderten Menschen sitzen müssen oder ihm in einem Konzert begegnen und von ihm angesprochen werden. Erst dann können wir spüren, dass er in vielem gar nicht so anders ist als wir. Wir werden sogar viele gemeinsame Punkte finden, wenn wir eine Begegnung wirklich versuchen.
Woher schöpfen Sie die Kraft für die Arbeit mit geistig behinderten Menschen?
B.: Ich bin nicht sicher, ob es überhaupt richtig ist zu denken, die Arbeit mit geistig Behinderten bräuchte so viel mehr Kraft als eine andere Arbeit. Mich würde es mehr Kraft kosten, wenn ich den ganzen Tag mit Zahlen arbeiten oder Flaschen abfüllen müsste. Es ist schön zu erleben, dass sich Menschen trotz ihrer geistigen Behinderung öffnen können, wenn man ihnen offen entgegenkommt. Sie geben einem immer etwas zurück. Einen Blick, ein Lachen, manchmal auch ihre Besorgnis. Wenn's Schnee oder Eis hat, sagen sie mir: »Pass auf beim Fahren, dass dir nichts passiert.« Sie sehen immer die menschliche Seite an mir und sprechen sie auch direkt an. Ich denke, es wäre viel anstrengender, den ganzen Tag mit Menschen zusammen sein zu müssen, bei denen ich mir nicht sicher sein kann, ob sie das, was sie sagen, auch so meinen.